Demokratischer Erfolg oder moralischer Bankrott?
Worum geht es beim Selbstbestimmungsgesetz wirklich?
Nachdem das Selbstbestimmungsgesetz im Bundestag beschlossen wurde, feierten Befürworter diesen Sieg als demokratischen Meilenstein, während andere den Untergang des christlichen Abendlandes wittern – schon wieder. Neu ist die Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz keineswegs. Beide Seiten – Gegner wie Befürworter – instrumentalisieren es bereits seit beinahe zwei Jahren, um bei den eigenen Wählern zu punkten. Dabei sind die Töne zunehmend schriller geworden und das nicht nur in der Politik, sondern auch in der Bevölkerung.
Wie bereits die Coronakrise oder der Russland-Ukraine-Konflikt befeuert auch dieses Thema die Spaltung in der Bevölkerung. Inzwischen darf angenommen werden, dass bei dieser Art der Kommunikation in der Regel ein gewisses Kalkül mitschwingt, um genau diese gesellschaftlichen Verwerfungen zu forcieren. Leider ist die Art, wie die Debatte geführt wird, der Diskussion eher abträglich.
In den sozialen Medien blenden Gegner des Beschlusses vielfach aus, dass dieses Gesetz im Wesentlichen eine Novellierung und Ablösung des Transsexuellengesetzes (TSG) von 1980 darstellen soll. Nur wenigen Kritikern ist demnach klar, wie bisher in solchen Fällen verfahren wurde. Die Möglichkeit, sowohl den Namen als auch das Geschlecht zu wechseln, besteht bereits seit Jahrzehnten. Wer diesen Weg wählte, benötigte neben psychologischen Gutachten medizinische Behandlungen. Eine Änderung des Personenstandes erforderte eine physiologische Annäherung an das jeweils andere Geschlecht.
Dabei ist die Frage, inwieweit eine solche Annäherung überhaupt möglich ist, durchaus eine individuelle. Zusätzlich kann der Weg, den viele transsexuelle Menschen bisher gehen mussten, sehr zeit- und kostenintensiv sein. Sowohl die Änderung des Namens als auch des Geschlechtseintrages konnten nämlich ausschließlich gerichtlich erwirkt werden.
Dieses Prozedere vereinfachen zu wollen, um Betroffenen einen Spießrutenlauf zu ersparen, ist menschlich betrachtet durchaus ein nobles Ansinnen. Die Frage, die sich jedoch auftut, bleibt bestehen: Hilft dieses Gesetz den Betroffenen tatsächlich?
Realistisch betrachtet erscheint das wenigstens zweifelhaft.
Konservative Kritiker äußern häufig die Sorge, als transsexuelle getarnte Gewalttäter könnten sich Zugang zu Einrichtungen und im Besonderen zu Schutzräumen von Frauen und vor allem Kindern verschaffen. Es liegt mir fern, diese Kritik abbügeln zu wollen, denn diese Gefahr besteht durchaus. Allerdings ist der Anteil an Transpersonen in der Gesellschaft relativ gering. Trotzdem liegt die Anzahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, ob nun gegen Frauen im Allgemeinen oder gegen Minderjährige, seit Jahren auf einem besorgniserregenden Niveau. Die Wahrscheinlichkeit, ein Täter würde diesen Umweg wählen, scheint unter diesen Umständen eher gering. Hier wäre ausnahmsweise der Begriff Einzelfall angebracht.
Ein weiteres Argument bezieht sich häufig auf den Sport. Auch in diesem Fall sind die Einwände durchaus berechtigt. Jedoch bezieht sich das eigentliche Problem in diesem Bereich auf die Neudefinition von Transsexuellen. Früher benötigten Transfrauen oder -männer keine eigenen Pronomen. Ihr eigentliches Ziel bestand darin, sich von einem Geschlecht zum anderen zu bewegen. Das binäre Geschlechtermodell war also völlig ausreichend, ob es nun heute noch zeitgemäß sein mag oder nicht. Da ein neuer Geschlechtseintrag mit gewissen Hürden verbunden war, hätten Transfrauen ohne medizinische Behandlung keine Möglichkeit besessen, den Geschlechtseintrag zu ändern. Eine jahrelange Hormontherapie, die ebenfalls zu den Erfordernissen gehörte, hätte wahrscheinlich jeden physiologischen Vorteil zunichtegemacht.
So hart sich das vielleicht für manche anhören mag, müssen Frauen dieses Problem aktuell wohl selbst regeln. Ausgrenzung ist selbstverständlich eine problematische Option. Dennoch bliebe den Frauen im Sport wohl nur eine Möglichkeit. Das bedeutet, sie dürften einfach nicht mehr gegen Transfrauen antreten, die jede Behandlung verweigern.
Damit würde der Wettbewerb zur Farce degradiert. Sportverbände wären gezwungen, bestimmte Regeln zu etablieren. Eine solche Regel könnte beispielsweise einen niedrigen nachgewiesenen Testosteronspiegel über einen längeren Zeitraum – etwa zwei Jahre – fordern. Männliche und weibliche Hormone beeinflussen Muskel- und Fettverteilung im Körper und sind deshalb ein guter Indikator, wenn auch erst über einen längeren Zeitraum. Auf diese Weise würde sich das Problem von selbst regulieren.
Überdies gibt es eine durchaus relevante Fraktion unter den Kritikern, die Transpersonen gerne als gestört darstellt. Diese Fraktion zeigt sich für eine „Zwangsnormalisierung“ in psychiatrischen Einrichtungen offen. Ironischerweise handelt es sich hierbei in der Regel auch um Personen, die sich gerne damit brüsten, ungeimpft durch die Pandemie gekommen zu sein.
Das ist deshalb so bemerkenswert, weil viele dieser Menschen gerne das Recht auf ihre körperliche Selbstbestimmung unterstreichen. Auch wurden viele von ihnen selbst während der Coronakrise häufig mit Ausgrenzung konfrontiert und als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Gelegentlich wurde ihr Geisteszustand infrage gestellt. Es werden also ganz deutlich unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Für mich ist diese kognitive Dissonanz schwer nachvollziehbar, da ich die Ausgrenzung aufgrund des Impfstatus in der Coronakrise selbst erlebt habe.
Indes argumentieren dieselben Politiker, die sich für eine Impfpflicht starkgemacht haben, heute mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Ihre Argumentation besagt, das Geschlecht sei ein gesellschaftliches Konstrukt. Dieser Standpunkt steht einem rein biologischen Blickwinkel diametral gegenüber, den beispielsweise viele AfD-Anhänger vertreten.
Letztlich haben beide sowohl recht als auch unrecht. Geschlechterrollen sind ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich über einen langen Zeitraum gebildet hat. Andererseits gibt es biologisch betrachtet nur zwei Geschlechter. Wenn wir jedoch annehmen, es gäbe zwei stereotype Ausprägungen von männlich und weiblich – sowohl gesellschaftlich als auch biologisch –, bleibt dazwischen viel Raum, den jeder Mensch mit seiner Individualität füllen kann. Nicht ohne Grund sind Geschlechtsmerkmale, aber auch Hormone in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Gäbe es nur zwei Fixpunkte, würden alle Männer und Frauen sich sehr viel mehr ähneln, sowohl optisch als auch in ihrem Verhalten. Logisch wäre also, anzunehmen, dass noch einiges dazwischen existiert.
Die Existenz von Transgendern könnte unter bestimmten Aspekten sogar als evolutionsbiologische Normalität betrachtet werden, weil die Evolution den Menschen in allen ihr möglichen Facetten hervorbringt. Das wäre jedoch ein anderes Thema. Ich lasse es hier ausschließlich als Denkanstoß einfließen.
Dennoch hilft dieser Einwurf, sich den Befürwortern des Gesetzes anzunähern und sich zumindest ihre Begründung anzuhören. Neben der Annahme, das Geschlecht stelle vor allem ein Konstrukt dar, möchte man Transsexuellen das Leben erleichtern. Das jedoch kann das Gesetz nur bedingt leisten, da es nur die Änderung des Geschlechtseintrages vereinfacht.
Für Betroffene – insbesondere Transsexuelle – wäre es deutlich hilfreicher gewesen, das bestehende TSG zu überarbeiten. Eine Ergänzung, die medizinische Behandlungen besser reguliert und standardisiert, wäre wesentlich wichtiger gewesen. Was das Gesetz eigentlich ändert, ist die Definition von Transsexualität. Darin liegt im Wesentlichen die Aufregung der Gegner begründet.
An diesem Punkt greift auch erstmals ein Kritikpunkt von konservativen Politikern. Dabei geht es um den Schutz von Kindern. Dieses Gesetz ist eine Einladung, sich über Jahre hinweg nur mit dieser einen Sache – seinem Geschlecht – zu beschäftigen, und zwar immer und immer wieder. Das gilt vor allem für junge Menschen.
Bisher mussten Betroffene sich sehr gut überlegen, ob und wie weit sie diesen Weg wirklich gehen wollen. Hatte jemand den Weg einmal eingeschlagen und beendet, falls das überhaupt möglich ist, konnte ein weitgehend normales Leben gelebt werden und genau das war ja auch das Ziel.
Im Gegensatz dazu werden Transsexuelle heute als eine Art heldenhafte Minderheit gefeiert – Normalität ist beinahe schon verpönt. Als ich mich vor 20 Jahren entschieden habe, meinen Weg gemäß TSG zu gehen, war es weder cool noch wurde ich dafür gefeiert. Ich bin sehr froh darüber, dass Transsexuelle es heute deutlich leichter haben. Dieses Gesetz jedoch ist für „klassische Transsexuelle“, die eigentlich ein ganz „normales Leben“ anstreben, äußerst problematisch. Es rückt ein Thema in die Öffentlichkeit, und zwar in einem Ausmaß, das selbst tolerante Menschen gegen Transpersonen aufbringt, weil hauptsächlich den Exoten eine Bühne in den Medien geboten wird.
Realistisch betrachtet, dient das neue Selbstbestimmungsgesetz hauptsächlich einer Minderheit unter den Transsexuellen und liefert zudem eine nachträgliche Rechtfertigung für den Frauenquotenplatz von Tessa Ganserer in der Grünen Bundestagsfraktion. Auch die Argumentation, eine begleitende Psychotherapie sei aufgrund der intimen Fragen entwürdigend, kann ich dabei nicht gelten lassen. Immerhin sollte doch ein gewisses Eigeninteresse daran bestehen, sich für den richtigen Weg zu entscheiden und der führt letztlich nur über das Verlassen der Komfortzone und beinhaltet ein hohes Maß an Selbstreflexion. Dem Zeitgeist entsprechend gilt beides mittlerweile wohl als überflüssig.
Natürlich steht es jedem Erwachsenen frei, über sein eigenes Leben zu entscheiden. Für Kinder darf und muss die Entscheidung jedoch schwer sein und sie darf selbstverständlich hinterfragt werden. Dabei möchte ich keinesfalls eine Tabuisierung erreichen, wie sie früher üblich war, sondern lediglich vor übereilten Handlungen warnen.
Im Grunde ist es unmöglich, sowohl für Kritiker als auch für Befürworter des Gesetzes Partei zu ergreifen. Beide instrumentalisieren eine Minderheit und machen sie zum Spielball ihrer politischen Agitation. Das Thema selbst ist politisch eher unbedeutend und insgesamt von geringer Tragweite. Hauptsächlich taugt es als Ablenkung von anderen Themen, die vielleicht im Schatten der gesamten Debatte bereits diskutiert werden. Das wirklich Erschütternde ist, wie gut dieses Derailing immer wieder funktioniert. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Unterpräsenz wichtiger politischer Probleme. Sie dringen auf diese Weise nie zu einem Großteil der Bevölkerung durch.
Überaus deutlich wird das, wenn wir berücksichtigen, wie viel der neue Geschlechtseintrag im Kriegsfall noch wert ist, so dieser erst kürzlich erfolgte. Offenbar steht der Verteidigungsfall über der Selbstbestimmung und ist von ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit, um diese Sicherheitsvorkehrung einzubauen.
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