Die neue deutsche Zweiklassenversammlungsfreiheit
… und wie die Stadt Marburg sie ganz offen auslebt.
Am 24. Januar, es ist etwa halb sieben und draußen ist es bereits dunkel, befinde ich mich auf dem Heimweg, als ich ein paar Bekannte treffe. Wie bereits seit Wochen, gehen auch an diesem Montag einige 100 Menschen spazieren.
Doch die Wahrheit ist, dass es kein Spaziergang ist, weil die Stadt keine Spaziergänge duldet. Nachdem die Anzahl der Teilnehmer zuletzt stark angewachsen ist, wurde beschlossen, die Spaziergänge als Versammlung zu definieren.
Im Ergebnis bedeutet das, die Ungezwungenheit ist dahin und wenn keine Anmeldung erfolgt, wird sofort aufgelöst. Das bedeutet auch, dass jemand die Zuständigkeit übernehmen muss – für einen ungezwungenen Spaziergang. Es bedeutet, dass der Spaziergang von der Polizei und vom Ordnungsamt begleitet wird. Die Teilnehmer müssen nun Masken tragen – im Freien. Als zusätzliche Schikane müssen alle Teilnehmer mindestens 1,5 m Abstand halten.
Wirklich irritierend ist, dass aufgrund der sogenannten Antifa die Begleitung sogar eine gewisse Berechtigung hat. Wir haben also einen Punkt erreicht, an dem die Antifa eine Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist. Die Taktik scheint dabei zu variieren. An jenem Montag waren zusätzlich einige Medizinstudenten mobilisiert worden, die versucht haben den Spaziergang zu blockieren, was wohl auch der Grund war, wieso ich das Schauspiel überhaupt mitansehen konnte. Jedes Mal, wenn sie aufgefordert wurden, den Weg freizugeben, sind sie ein Stück weiter gerannt, um dort wieder eine Blockade zu errichten – alles mit Maske versteht sich.
Da einige der Spaziergänger aus medizinischen Gründen keine Maske tragen dürfen, mussten sie sich am Ende der Prozession einreihen und 3 m Abstand voneinander halten. Das ist in Marburg inzwischen üblich für regierungskritische „Versammlungen“. Für Medizinstudenten scheint ein solcher Fall allerdings undenkbar, weshalb der Lieblingsslogan der Gruppe an diesem Abend „Masken auf!“ zu sein schien.
Mein erster Gedanke in diesem Moment:
„Bitte lass mich nie wieder einen Arzt brauchen!“
Mein zweiter Gedanke, kombiniert mit Entsetzen über die Erkenntnis:
„Das ist die Zukunft unseres Landes!“
Sicher ist diese erste Reaktion übertrieben, aber die surreale Szenerie, in der ein ungezwungener Spaziergang zur maximalen Demütigung – einem Gang nach Canossa – oder, wem das lieber ist, zu einem „Walk of Shame“ stilisiert werden soll, hat bei mir durchaus Bestürzung ausgelöst.
Der kumpelhafte Umgang zwischen Polizei und Antifa trägt nur wenig zu meiner Beruhigung bei. Während ein Spaziergang – ohne vorherige Anmeldung – sofort als illegale Versammlung aufgelöst wird und die Spaziergänger zu Maske und Abstand verpflichtet sind, lässt man die Pseudo-Antifa gewähren. Die Masken werden selbstverständlich freiwillig getragen und wer das möchte, kann das auch gerne tun, obwohl eine Maske im Freien wohl eher kontraproduktiv sein dürfte. Auf die Einhaltung von Abständen wird dafür verzichtet und die Polizei sieht darüber hinweg. Anmelden muss sowieso nur, wer regierungskritisch ist.
Trotz dieser eher abschreckenden Erfahrung, habe ich mich heute, am 05.02.2022, dazu durchgerungen, nach längerer Zeit wieder eine Demonstration zu besuchen, um Gesicht zu zeigen, obwohl mir klar ist, wie wenig wir damit wohl ausrichten werden. Das die Politik in völliger Unkenntnis der Fakten lebt, ist meiner Ansicht nach ein Irrglaube. Sie ist schlicht zu weit gegangen, um einfach zu sagen: „Entschuldigung. Wir haben uns geirrt.“
Wir sind auch schon über den Punkt hinaus, an dem es genügt, Lothar Wieler, Christian Drosten und Karl Lauterbach als Verantwortliche zu präsentieren. Die Paranoia-Prominenz besteht nämlich ebenso wenig aus drei Personen wie der Widerstand. Also wird einfach stur weitergemacht, in der Hoffnung die Impfquote in die Höhe zu treiben und sich dann vielleicht glimpflich aus der Affäre zu ziehen – nehme ich an.
Doch hier geht es nicht um die aktuelle Corona-Politik, denn die Versammlungsfreiheit ist nur eines unter vielen ihrer Opfer.
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Artikel 8 des Grundgesetzes
Vom zweiten Satz dieses Artikels wird nun seit geraumer Zeit ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Anordnungen sind oft ebenso willkürlich wie die Definition einer Versammlung. Da kann es schon mal passieren, das bekannte Maßnahmenkritiker bei einem Gespräch mit anderen Passanten eine Versammlung angedichtet wird. So geschehen in Hannover.
Wer diese zwei Sätze aufmerksam liest, der wird feststellen, dass im ersten Satz die Worte „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ stehen. Dennoch sollen inzwischen sogar Spaziergänge angemeldet werden und werden häufig als „illegal“ deklariert. Der zweite Satz sieht Einschränkungen dieser Versammlungsfreiheit überhaupt nur unter freiem Himmel vor. Trotzdem hat die Regierung zeitweilig Kontaktverbote verhängt – ebenso wie die Vorgängerregierung. Wenn man das Grundgesetz ernst nimmt, ist das ein klarer Verfassungsbruch, dem das Bundesverfassungsgericht einfach zusieht – so viel zur Gewaltenteilung.
Nun aber wieder zur heutigen Versammlung. Gegen 13:45 Uhr erreiche ich den Elisabeth-Blochmann-Platz, von dem der Demonstrationszug starten soll. Die Polizei ist bereits vor Ort und auf dem Platz haben sich einige Menschen eingefunden, die einem Redner lauschen, der gerade verkündet, den Platz verlassen zu müssen, weil „die Schwurbler“ eine Demonstration angemeldet hätten.
Die „Aktivisten“, die aus einer Mischung von „Fridays for Future“-Kids, Wissenschaftsleugnern und Impfschadenverharmlosern bestehen, ziehen sich hinter die Absperrung zurück. Vorher nutzen sie die Zeit bis 14 Uhr allerdings voll aus, um weitere Reden zu halten.
Da ich noch niemanden sehe, den ich kenne, lehne ich mich an ein Straßenschild am Rande des Platzes – ohne eine Maske aufzusetzen. Dann sehe ich ein paar bekannte Gesichter, die auch der Antifa und der Polizei bereits häufiger aufgefallen sein dürften. Sofort kommt einer der Polizisten zu uns und weist uns – immer noch am Rand stehend – darauf hin, dass auf dem gesamten Platz Maskenpflicht herrsche.
Schließlich füllt sich der Platz langsam und die „Bedingungen“ für die Demonstration werden verlesen. Dabei macht die Antifa einen derartigen Lärm, dass vermutlich kaum einer verstehen kann, welche Regeln tatsächlich gelten. Die Polizei lässt sie gewähren – Anmeldung hin oder her. Masken tragen natürlich alle, Abstände einzuhalten, gilt auch heute nur für Teilnehmer der angemeldeten Demonstration.
Abgesehen von den üblichen „Masken auf!“-Rufen, skandieren die überwiegend jugendlichen „Gegendemonstranten“:
„Ihr seid nicht der Widerstand!“
Ich frage mich ehrlich, wer sich diese intellektuelle Glanzleistung hat einfallen lassen. Natürlich wissen wir alle um die Eloquenz der Antifa, die gerne mit wissenschaftlichen Botschaften à la „Wir impfen euch alle!“ auftrumpft, aber hier haben sie sich selbst übertroffen.
Nur eine winzig kleine Bemerkung möchte ich vielleicht dazu einwerfen. Für gewöhnlich, also in den Geschichtsbüchern und in allen Geschichten, die man so kennt, in denen zwei Gruppen konkurrieren, ist die in der Minderheit in der Regel auch der Widerstand, weil sie einer überlegen geglaubten Gruppe Widerstand leisten – also widerstehen.
Es gibt jetzt also zwei Möglichkeiten. Entweder sind wir doch in der Überzahl und ihr seid der Widerstand. Dann seid ihr die radikale Gruppierung, die der Mehrheit ihren Willen aufzwingen möchte und wir stehen für Entscheidungsfreiheit.
Die andere Option ist, wir sind der Widerstand. Wenn wir aber der Widerstand sind, dann sind wir auf jeden Fall die positive Kraft, denn in welcher Geschichte und bei welcher historischen Begebenheit, hat sich die größere Gruppe, die einer kleineren ihren Willen aufzwingt, als im Recht befindlich herausgestellt?
Entschuldigung. Die Frage war natürlich rein rhetorisch. Meines Wissens nach … nie.
Wie auch immer. Der Zug durch die Stadt verläuft relativ ereignislos und nur wenige „Aktivisten“ stehen uns zur Seite, um uns weiter mit ihren hohlen Phrasen zu traktieren. Die Polizei begleitet uns ebenfalls und obwohl ich mich auch dieses Mal kaum des Eindrucks erwehren kann, die beiden Gruppen haben sich miteinander arrangiert, ist das Verhalten der Marburger Polizei sicher noch als sehr angenehm und deeskalierend zu bezeichnen. Das Problem sind vermutlich eher die Versammlungsbehörden.
Als wir nämlich an den Ausgangsort zu unserer Kundgebung zurückkehren, wurden die Absperrgitter kurzerhand bis nahe an den Rand des Platzes verschoben und der Platz mit Fahrrädern zugeparkt. Damit ist die Fläche für uns nicht nutzbar. Die Provokateure sind natürlich noch da, skandieren Sprüche und drehen die Musik laut auf, damit wir möglichst wenig von der Kundgebung verstehen.
Die Polizei lässt sie gewähren und so blockieren wir die Straße unter ihrer Aufsicht.
Eigentlich ist das für uns kein Drama. Denn wir alle wissen längst, was aus der Lautsprecherbox an unsere Ohren dröhnt. Wichtig wären die Informationen vor allem für die Kinder und Jugendlichen jenseits der Absperrung.
Noch vor der Demo, während des Wartens, durfte ich einem Redner lauschen, der nach wie vor proklamiert, sich impfen zu lassen sei ein Akt der Solidarität. Natürlich ist das wenig überraschend, da auch die Politik dieses Narrativ kolportiert und noch immer so tut, als gäbe es eine sterile Immunität. An dieser Stelle würde ich normalerweise eine kleine Zahlenkolonne aufstellen, die dann wieder niemand liest. Also lasse ich es und schließe mit dem Zitat eines Arztes, dem vor allem am Wohl der Patienten gelegen ist – einem echten Wissenschaftler, weil er Wissen schafft.
© Photo by Tingey Injury Law Firm on Unsplash